Rede zur Eröffnung der Ausstellung
Aus anderer Sicht. Die frühe Berliner Mauer
gehalten von
Hortensia Völckers
Vorstand / Künstlerische Direktorin
Kulturstiftung des Bundes
am 05.08.2011 in Berlin
Es gilt das gesprochene Wort.
Meine Damen und Herren. Ich freue mich bei Ihnen zu sein, um im Namen der Kulturstiftung
des Bundes die Ausstellung „Aus anderer Sicht“ mit zu eröffnen. Wir sind sehr froh, an
diesem Vorhaben beteiligt zu sein. Dieses Projekt ist viel mehr als eine Ausstellung. Es ist
ein Archiv- und Buchprojekt, eine literarische ebenso wie eine fotografische Unternehmung –
vor allem ist es ein Angebot, der Erfahrung der deutschen Teilung in Berlin, auf eine andere,
eine künstlerische Weise erneut näher zu kommen.
Fünfzig Jahre nach dem Bau und mehr als zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer fällt es
schwer, die Klischee-Bilder und Gedächtnis-Routinen zur deutschen Teilung hinter uns zu
lassen und über die Berliner Mauer etwas Neues und Überraschendes zu erfahren.
Genau das gelingt dieser Ausstellung in eindrucksvoller Weise. Sie produziert – „aus anderer Sicht!“, wie es im Titel heißt – ein überaus eigensinniges und in dieser Form buchstäblich „unvorhergesehenes“ Bild der Berliner Mauer.
Das liegt einmal an dem überaus glücklichen Fund, der diesem Projekt zugrunde liegt. Annett Gröschner (damals als Historikerin im Prenzlauer Berg Museum) entdeckte im Jahr 1995 in einem Pappkarton eines Militärarchivs ein Konvolut von über eintausend Fotografien der Berliner Mauer. Sie wurden aufgenommen von Fotografen der DDR-Grenzbrigaden und besaßen nur eine Funktion: die Optimierung der Grenzanlagen auf einer Länge von insgesamt 43 Kilometern mitten durch Berlin: von Altglienicke im Süden bis hin zum Märkischen Viertel im Norden.
Wir können Annett Gröschner und Arved Messmer ganz sicher herzlich danken für ihre verdienstvolle Sicherstellung und Aufzeichnung dieser Dokumente. Gratulieren möchte ich ihnen darüber hinaus für die Art und Weise, in der sie das Material präsentieren. Das geschieht nicht streng wissenschaftlich als eine historische Rekonstruktion, sondern in der sehr eigensinnigen und künstlerischen Form einer assoziativen Montage.
Den Ausgangspunkt bilden die Fotografien aus dem besagten Pappkarton. Mit ihnen aber verbindet sich sofort die Frage, was eine einzelne Fotografie über die Berliner Mauer überhaupt auszusagen vermag? Beinahe nichts, was der Monstrosität dieses Bauwerkes annähernd gerecht werden könnte. Deswegen hat Arwed Messmer das Konvolut digital bearbeitet und über eintausend Einzelbilder zu insgesamt 324 Panoramen zusammengefügt.
Das ist der erste Teil jener künstlerischen Anverwandlung, der Arved Messmer und Annett
Gröschner ihren Dokumente-Fund unterzogen haben. Der zweite Teil ist die Engführung der
Fotografien mit Textdokumenten, die Annett Gröschner aus Archiven gewonnen hat. Diese
doppelte Optik von Fotografie und Text ist es, aus der wir ganz neue Erinnerungsbilder an
die Berliner Mauer gewinnen. Erinnerungsbilder, die beides zugleich sind: objektiv gesicherte Archivmaterialien zum einen und subjektiv gestaltete Artefakte zum anderen. Die
fundamentale Fremdheit der Mauer wird in dieser Ausstellung nicht „weg-erklärt“ und
aufgearbeitet. Sie ist in den Erinnerungsbildern von Arwed Messmer und Annett Gröschner
stecken geblieben, zeigt sich in der fast bühnenhaften Leere und Abstraktheit, mit der das
Band des Todesstreifens die Stadt zerteilt hat, oder in den gespenstisch konkreten
Fragmenten aus den Abhörprotokollen der Grenzsoldaten, mit denen die Mauerbilder
unterlegt sind:
„Was wollt Ihr hier? Geht schlafen!“ – so lautet zum Beispiel die Protokoll-Notiz eines
anonymen Rufes aus dem westlichen Teil Berlins. Oder: „Kommt doch rüber, wir haben
schöne Frauen für Euch. Ein Auto bekommt Ihr auch!“ Oder: „Guten Morgen, Ihr Mörder!“.
Meine Damen und Herren. Ich glaube, dies ist eine Mauer-Ausstellung, wie wir sie noch nie zu Gesicht bekommen haben. Ihr politisches Anliegen gegenüber der Berliner Mauer ist eindeutig: Es besteht darin, „den Skandal ihrer Existenz in Erinnerung zu halten“ - so programmatisch formuliert es Florian Ebner im Katalog.
Dass uns dieses Erinnern ihrer Existenz gelingt, liegt nicht nur an der Einzigartigkeit der hier versammelten Dokumente, sondern daran, dass diese Ausstellung ganz eigene Wege des Erinnerns geht – assoziativ, auch fiktionalisierend und dabei im vollen Vertrauen auf ein Publikum, dass – so wie Sie heute Abend – nur darauf wartet, die Geschichte der Berliner Mauer „aus anderer Sicht“ neu zu entdecken.
Wir danken den Künstlern Annett Gröschner und Arwed Messmer für ihre großartige Idee und die jahrelange Ausdauer bei der Realisierung dieses Projekts, ferner Florian Ebner als umsichtigem Projektleiter, den beteiligten Archiven, Studenten, sowie allen weiteren Mitwirkenden, die zum Erfolg dieser Ausstellung beigetragen haben. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.